Wider aller Annahmen (Woche 1)


Es ist nicht zu glauben. Mehr als 550 Tage nach dem ursprünglich geplanten Einreisedatum hat es mich nun wider aller Annahmen doch nach Japan verschlagen. Dabei sah es vor drei Wochen noch aus, als wäre das Auslandstudienjahr definitiv Geschichte. Ich buchte und besuchte Module an der Universität in Zürich und blickte nach langer Zeit endlich das erste Mal ein paar Monate vorwärts und hatte etwas Gewissheit darüber, was laufen würde... und dann kam aus dem Nichts die Email der Universität in Osaka mit der Info, wir könnten uns fürs Visum bewerben. Aber bevor ich darauf eingehe, was seither alles passierte, hier der lange Krimi der Vorgeschichte...

 

Wie ihr wisst, studiere ich seit 2016 Japanologie und Ostasiatische Kunstgeschichte an der Universität Zürich. Mit meiner Festanstellung in der Stadtbibliothek Aarau war für mich während des Studiums schnell klar, den Austausch gegen Ende des Bachelors zu machen, damit ich während des Bachelors meine Stelle behalten konnte. Also bewarb ich mich für Herbst 2020 für ein Auslandstudienjahr in Osaka und erhielt im Januar 2020 die Bestätigung. Nach vier Jahren konnte ich nun endlich für ein Jahr nach Japan - oder auch nicht. Die Pandemie schlug wie bei allen wie eine Bombe ein und die massive Unsicherheit, ob das Auslandstudienjahr denn klappen möge oder nicht, war zu viel. Im Juli 2020 entschied ich mich daher dazu, es ein Jahr zu verschieben und mich stattdessen auf das Verfassen meiner Bachelorarbeit zu konzentrieren. Ein Jahr später haben schliesslich alle schon ein Jahr mit der Pandemie gelebt und es sollte routinierter und einfacher ablaufen. So die Annahme.

Also im Winter 2020 derselbe Bewerbungsprozess nochmals, im Januar 2021 erneut die Zusage, im Frühling das Sammeln der benötigten Dokumente und das lange Bammeln darum, ob wir wohl einreisen können. Aber im Gegensatz zum Vorjahr, als Japan im November die Studenten kurzzeitig einreisen liess, hiess es bei uns warten. Warten. Warten. Japan schottete sich von der Aussenwelt gänzlich ab, liess niemanden rein (ausser während der olympischen Spiele, na toll...). Der anfängliche Optimismus, dass die Einreise im September 2021 klappen würde, schwand zunehmend und machte Ernüchterung Platz. Im Oktober startete die Uni. Online via Zoom und zu japanischer Zeit. Will heissen: Unterrichtsstart um halb 4 'morgens', halb 7 wenn es gut kommt - mit der Winterzeit dann noch eine Stunde früher. Aber man hatte die Illusion oder Hoffnung, dass wenigstens auf November geöffnet würde, also biss man sich irgendwie durch. Ich war da etwas vorausschauender als andere und buchte nur die 'Nachmittagskurse', schaute mir die Morgenkurse nicht einmal an. Andere buchten auch solche und standen dann um halb 1 nachts auf... Es klappte überraschend gut. Was aber nicht heisst, dass es einfach war. Und je mehr Wochen verstrichen, desto kleiner waren unsere Reserven.

 

Dann anfangs November freitags die grosse erhoffte Änderung: Japan will für Studenten öffnen! Ich versuchte, meine Erwartungen tief zu halten, doch nach einer Email meines Professors machte auch ich mir Hoffnungen und sorgte für Euphorie - bis montags die Ohrfeige kam: Nur diejenigen im J-Programm mit staatlichem Stipendium erhalten ein Visum, bei uns vom M-Programm geht es bis mindestens Februar. Als ob der Virus zwischen uns differenziert... Diese Information alleine war deprimierend, aber wenigstens zwang sie uns Studenten, uns endlich zu organisieren und kurzzuschliessen. Ein Discord-Server wurde geöffnet, Spiele wurden organisiert, Lerngruppen gebildet. Zwei Zoom-Sessions am Samstag zu Tageszeiten ermöglichten es, uns tatsächlich mal anständig zu unterhalten, anstatt wie ein Zombie in die Kamera zu schweigen. Die Situation war genauso schlecht wie vorhin, aber wir verknüpften uns und die Gemeinschaft half sondergleichen, sich mit der Situation irgendwie abzufinden. Wir sassen alle im gleichen untergehenden Boot und schöpften aus Leibeskräften das Wasser hinaus, das durch alle Lecks hineindrang. Wir hielten uns damit gerade so über Wasser. Dass der Unterricht in den folgenden Wochen massiv an Qualität verlor, weil er nun den wenigen glücklichen J-Studenten angepasst wurde, die vor Ort waren, musste einfach geschluckt werden. Genauso, wie die Tatsache, dass nun zwei tuschelnde Stimmen im Klassenzimmer den Zoomlautsprecher übertönten, wir um 4 Uhr morgens alleine im Zimmer sitzend den Leuten im Klassenzimmer beim Lachen zuschauen konnten, und Zoomsessions mit 20 Minuten Verspätung starteten, weil die Dozentin erst noch mit den Leuten im Zimmer schwatzte. 仕方がない。Shikata ga nai. Kann man halt nichts machen. Eine japanische Redewendung, die wir zu hassen lernten. Genauso wie die Frage in jedem Unterricht: お元気ですか。O-genki desu ka. Geht es euch gut? Nein. Überhaupt nicht. Aber das kann man ja nicht sagen. Also apathisch in die Kamera starren, brav nicken, und die Augenringe zur Schau tragen, die jede Woche dunkler werden. Die Uni-Reise zum nahen Katsuoji-Tempel, an der wir virtuell teilnehmen 'durften', liess die Stimmung von einem Tag auf den anderen in den Abgrund stürzen. Nach über 250 Nachrichten auf LINE versuchten wir uns damit zu trösten, dass wir dann vielleicht im Februar einreisen und zumindest die Frühlingsferien in Japan geniessen können. Diese Aussicht und die gemeinsamen Spiele, die wir organisierten, hielten uns irgendwie am Laufen. Tag für Tag. Woche für Woche. 

 

Und dann... Omikron. Emotionale Krise bei der ersten Nennung der neuen Variante, da ganz klar war, wie Japan reagieren würde. Einen Tag später die Bestätigung: Die Grenzen sind wieder zu, niemand kann rein. Bis wann? 'Bis auf Weiteres.' Das hiess es auch im April, und dann war Japan für sieben Monate zu. Hatten wir zuvor noch Hoffnung, war diese spätestens jetzt dahin. Und etwas weiteres war nicht mehr vorhanden: Vertrauen in die japanische Regierung. Zwei Wochen zuvor hatte es noch geheissen, wir können einreisen, nun die Kehrtwendung. Von dieser Medienmitteilung an war für uns klar, wir verbringen den Rest des Semesters nachts auf Zoom. Es galt, das Semester irgendwie durchzubeissen, damit wir zumindest den Leistungsweis davon in der Tasche haben. Tränenausbrüche im Unterricht wurden im wahrsten Sinne des Wortes zur Tagesordnung und wir zogen uns gegenseitig wieder aus dem Sumpf, indem wir, wenn es einem schlecht ging, im Chat schrieben, und jemand anderes sich die Zeit nahm, zuzuhören - auch um 11 Uhr abends, wenn man vier Stunden später eine Semesterabschlussprüfung schrieb. Dieser Gruppenzusammenhalt, obwohl wir uns nie in Echt gesehen hatten, war besonders, und das Einzige, was mich am Laufen hielt. 

 

Mit dem Ende des Semesters kamen dann die ersten Abbrüche. Einige brachen sofort ab, andere - wie ich - warteten zu, aber bezweifelten, dass aus dem Austausch noch etwas wird. Für mich war klar: Kann ich im April das zweite Semester nicht in Japan starten, war's das. Keinen Tag länger Nachtstudium. Ich wartete mit dem definitiven Entscheid noch zu und bereitete sowohl Plan A und Plan B vor. Aber Mitte Februar stand für mich eigentlich fest: Ich führe in Zürich mein Studium fort. Ich buchte Kurse, und die Gewissheit tat gut. Zum ersten Mal seit langem hatte ich einen Plan und konnte zwei, drei Monate in die Zukunft schauen und mich auf Dinge freuen. Japan? War gelaufen und besser schnell vergessen. Ich hatte Fortschritte gemacht, ja, und die Kurse waren nicht schlecht. Aber ich sah auch in jeder Lektion die Grenzen des Onlinestudiums. Grammatik und Vokabeln, die wir lernten, gingen ungebraucht wieder vergessen. Länger auf japanisch Sprechen konnte ich genau mit meiner Tutorin, einmal die Woche. Auch wenn ein Auslandstudienjahr toll war und theoretisch unser Japanisch massiv verbessern würde - online machte es keinen Sinn und es war es nicht wert, unsere physische und psychische Gesundheit weiter dafür zu opfern.

 

Das war der Stand der Dinge, als am 25. Februar 2022 die Info kam, wir könnten uns fürs Visum bewerben. Wohlbemerkt - 1 Tag nach der Invasion Russlands in die Ukraine. Die vermeintliche Sicherheit der letzten Tage war damit mit einem Schlag wieder dahin. Zudem hatte Japan eine Obergrenze von 5000 Einreisen pro Tag festgelegt und niemand wusste, wie diese bestimmt würden. Aber es war bekannt, dass ca. 147'000 Studenten auf eine Einreise warteten. Diese Rechnung ging nicht gut auf, wenn man bis im April in Japan sein wollte. Selbst zu diesem Zeitpunkt war also unklar, ob es mit dem Austausch noch klappen würde oder nicht. Aber man kann immer noch später abbrechen, also rief ich die japanische Botschaft in Bern an. Aber die wartete auf eine Liste aus Tokyo, wie es hiess. Also Mail an die Uni in Japan, die aber nichts von einer Liste wusste. Äusserst seltsam, denn in allen anderen Ländern konnten sich die Leute schon fürs Visum bewerben, ohne Liste aus Tokyo. Zwei Anrufe an die Botschaft und fünf Emails später hiess es immer noch, ich solle in zwei Wochen wieder anrufen. Was bedeutet hätte, dass ich den Austausch wohl vergessen konnte... Und dann geht es plötzlich sehr schnell: Die Uni rief das Bildungsministerium an, dieses das Aussenministerium, und dasjenige die Botschaft. Woraufhin ich den Aufruf bekam, noch am gleichen Tag vier Stunden in Bern zu erscheinen, und mir das Visum innert einer Stunde - aussergewöhnlicherweise natürlich! - ausgestellt wurde. Zwei Tage später war der Flug am 22.3. gebucht. Mein Kopf hinkte hinterher und konnte es nicht fassen: Was in sieben Monaten nicht möglich war, war innert vier Stunden passiert.

 

Drei Wochen, zwei PCR-Tests, eine Menge Papiere und Formulare und 40 Minuten Ungewissheit vor dem Einreiseschalter am Flughafen später bin ich nach dieser endlosen Odyssee nun endlich in Japan angekommen. Praktisch auf die Minute genau vor einer Woche konnte ich die Immigration passieren und machte mich mit vier anderen Studenten aus dem selben Flieger, die ich von den Zoom-Kursen kannte, auf nach Minoh bei Osaka, wo wir bis Ende August wohnen werden. Auch sieben Tage später scheint diese Tatsache angesichts der langen Vorgeschichte vor allem eines zu sein: surreal.